Patellaluxation – Kniescheibenverrenkung – Patellainstabilität – MPFL Plastik

Autoren: Dr. med. Steffen Thier, Dr. med. Andreas Klonz

Die Kniescheibe (Lateinisch Patella) kann aus ihrem Gleitlager an der Vorderseite des Kniegelenkes herausspringen. Man spricht dann von einer Luxation oder Verrenkung der Kniescheibe. Dies geschieht meist erstmals im Kindes- und Jugendlichenalter. Häufig passiert dies bei einer ‚komischen‘ Bewegung oder Verdrehung in Sport oder Freizeit, eher seltener durch ein wirkliches Unfallgeschehen. Meist bestehen bestimmte anatomische Voraussetzungen, die das Herausspringen der Kniescheibe überhaupt erst möglich machen. Ist die Kniescheibe einmal luxiert, besteht ein erhöhtes Risiko für weitere Verrenkungen.

Anatomie und Biomechanik:

Die Kniescheibe fungiert am Kniegelenk als eine Art „Umlenkrolle“ und gewährleistet hierdurch die Kraftübertragung der Oberschenkelmuskulatur auf den Unterschenkel. Ohne sie wären wir nicht in der Lage das Kniegelenk aktiv zu strecken. Sie muss teilweise erheblichen mechanischen Belastungen standhalten, die je nach Anforderung ein Vielfaches des Körpergewichts betragen können.

Um diese mechanischen Belastungen übertragen zu können, benötigt die Kniescheibe kräftige Stabilisatoren die einem Herausspringen der Kniescheibe entgegenwirken. Hierbei wird zwischen passiven, aktiven und statischen Stabilisatoren unterschieden.

In gestreckter bzw. strecknaher Position des Kniegelenks (0-30° Beugung) ist die Kniescheibe noch nicht in die sichere, knöcherne Gleitrinne des Oberschenkelknochens eingetreten und ist daher besonders empfindlich gegenüber einem Herausspringen zur Außenseite.

Dem Herausspringen der Kniescheibe wirken insbesondere der innere Kapselbandapparat (passiver Stabilisator) und die innere Oberschenkelmuskulatur (aktiver Stabilisator) entgegen.

Von wesentlicher Bedeutung ist in diesem Zusammenhang ein Band, welches den inneren Oberschenkelknochen mit der Kniescheibe verbindet, das sog. MPFL (Mediales Patellofemorales Band). Experimentelle Studien zeigten dass dieses Band zum überwiegenden Teil den nach außen gerichteten Kräften an der Kniescheibe entgegenwirkt.

Beim Herausspringen der Kniescheibe kommt es daher in etwa 90% der Fälle zu einer Verletzung des inneren Bandapparates (MPFL-Riss).

Kommt es bei einem am Boden fixierten, nach Innen gedrehten Bein zu einem Einwärts knicken des Kniegelenks, kann die Kniescheibe auskugeln. Im Sport tritt ein solcher Mechanismus mit hoher Regelmäßigkeit auf, sodass typischerweise der junge, sportlich aktive Mensch von der Kniescheibenluxation betroffen ist.

Nach einer Kniescheiben-Erstluxation ist das Kniegelenk häufig stark geschwollen und nur eingeschränkt zu untersuchen. Es sollten Röntgenaufnahmen des Kniegelenks angefertigt werden, um Knochenbrüche der Kniescheibe bzw. der äußeren Oberschenkelrolle auszuschließen. Zusätzlich sollte eine Kernspin-Untersuchung des Kniegelenks durchgeführt werden, um zum Einen das Verletzungsausmaß des inneren Kapselbandapparates zu erfassen und zum Anderen Schädigungen des Gelenkknorpels, die in bis zu 25% der Fälle auftreten können, auszuschließen.

Die Untersuchungen dienen zudem dazu, die Schädigung des Kapselbandapparates genauer zu lokalisieren und die anatomischen Gegebenheiten, die das Herausspringen der Kniescheibe begünstigen zu analysieren.

 

Behandlung der erstmaligen Kniescheibenverrenkung

Falls keine Anzeichen einer Verletzung des Gelenkknorpels, eines Knochenbruchs oder einer anhaltenden, Fehlstellung der Kniescheibe vorliegen und eine isolierte Schädigung des inneren Kapselbandapparates besteht, kann bei niedrigem Anforderungsprofil an das Kniegelenk eine konservative (nicht-operative) Therapie erfolgen.

Bei sportlich aktiven, jungen Patienten mit hohem Anforderungsprofil sollte in einem solchen Fall nach derzeitigem Kenntnisstand eine Operation zur Naht des inneren Kapselbandapparates (MPFL-Komplex) erfolgen.

Liegen Begleitverletzungen des Knochens oder Knorpels vor, ist ebenfalls eine operative Therapie zu empfehlen. Studien konnten belegen dass in diesen Fällen die Rate der erneuten Patellaluxationen durch eine Operation (Naht/Rekonstruktion des MPFL-Komplexes) deutlich gesenkt werden kann.

 

Operative Therapie nach unfallbedingter Kniescheiben-Erstluxation:

Da der MPFL-Komplex an verschiedenen Stellen reißen kann z.B. Kniescheibennah, Oberschenkelnah oder in der Mitte des Bandes, muss sich die Rekonstruktion des Bandes am Schädigungsmuster orientieren. Studien favorisieren ein mini-offenes Vorgehen.

Zunächst erfolgt eine diagnostische Kniegelenksspiegelung um Begleitverletzungen zu bestätigen bzw. freie Gelenkkörper zu entfernen. Je nach Lokalisation des Risses erfolgt dann ein minimal-invasiver Zugang zum inneren Kapselbandapparat. Ist der Riss Kniescheibennah wird abhängig vom Schädigungsmuster entweder eine Direktnaht oder eine Befestigung am inneren Kniescheibenrand mit Knochenankern durchgeführt.

Eine arthroskopische Naht (in ‚Schlüssellochtechnik‘) ist zwar möglich, Studien zeigen jedoch eine höhere Rate von erneuten Patellaluxationen als nach dem offenen Eingriff.

 

Wiederholte Kniescheiben-Luxation/Erstluxation bei Bagatelltrauma:

Springt die Kniescheibe durch ein Bagatelltrauma aus ihrer Position oder kommt zum wiederholten Mal zur Kniescheibenluxation müssen die Röntgenaufnahmen zwingend auf angeborene Fehlanlagen der knöchernen Gleitrinne des Oberschenkelknochens und Beinachsenfehlstellungen überprüft werden. Diese können eine Kniescheibenluxation begünstigen und werden im Einzelnen beschrieben.

Eine erneute Kernspin-Untersuchung des Kniegelenks ist in diesem Fall ebenfalls notwendig, um das Verletzungsausmaß des inneren Kapselbandapparates zu erfassen und Schädigungen des Gelenkknorpels auszuschließen.

 

Operative Stabilisierung mit ‚MPFL-Plastik‘:

Im Falle einer erneuten Kniescheibenluxation ohne ausgeprägte angeborene Fehlanlagen ist eine Verstärkung/Ersatz des MPFL-Komplexes durch ein Sehnentransplantat notwendig, die sog. MPFL-Plastik. Hierbei wird das Sehnentransplantat genau im Verlauf des Original-MPFL-Bandes eingebaut. Es muss an der Innenseite der Kniescheibe sowie an der inneren Oberschenkelrolle am Knochen fixiert werden.

Als Sehnentransplantat kann ein kleiner Streifen aus der Quadrizepssehne oder eine Kniebeugesehne von der Rückseite des Oberschenkels (Gracilissehne) dienen – ganz ähnlich wie bei der Kreuzbandoperation, allerdings ist das Transplantat für das MPFL deutlich kleiner und dünner.

 

MPFL Ersatz Technik mit der Quadrizepssehne:

(Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Firma Karl Storz)

Abb 1 und 2: Aus der relativ dicken Quadrizepssehne wird ein 3 mm dünner und 10 mm breiter Streifen herauspräpariert.

Patellaluxation MPFL 1 Patellaluxation MPFL 2

 

Abb 3 und 4: Der Sehnenstreifen wird umgeschwenkt und anstatt des gerissenen MPFL Bandes eingefügt. Wichtig ist, dass der Sehnenstreifen an genau der richtigen Stelle am Oberschenkel fixiert wird. Die richtige Stelle wird deshalb unter Röntgenkontrolle aufgesucht. Das Transplantat wird dort mit einer Schraube im Knochen fixiert. Die Schraube ist resorbierbar, das heißt, sie löst sich im Lauf der Zeit langsam auf.

 

Patellaluxation MPFL 4Patellaluxation MPFL 3

 

 

Sollte sich zusätzlich ein Knorpelschaden hinter Kniescheibe oder an der Oberschenkelrolle zeigen ist dieser zusätzlich durch eine Knorpelzell-Transplantation zu behandeln (siehe MACT-Kniegelenk).

 

Kniescheibenluxation bei angeborenen Fehlanlagen:

In dem Fall, das ausgeprägte knöcherne anatomische Variationen bestehen, die die Verrenkung der Kniescheibe stark begünstigen, ist die MPFL Plastik möglicherweise nicht geeignet oder nicht alleine ausreichend. Diese Variationen können zum Beispiel sein: Kniescheibenhochstand, X-Beinachse, Fehlanlage des Kniescheibengleitlagers und Rotationsfehlstellungen. Die Behandlung von angeborenen Variationen/Fehlanlagen muss sich an der Ursache orientieren und erfordert ggf. knöcherne Korrektureingriffe.

 

 

Behandlungsschema unfallbedingte Kniescheibenluxation nach Operation:

1.- 3. Woche nach der Operation (Therapie mit der Motorschiene)

  • Bewegungsübungen auf der Motorschiene (CPM-Schiene) bis 90° Beugung
  • ca. 20kg Teilbelastung an Krücken
  • Schmerzlinderung/Abschwellung/ggf. Lymphdrainge/Kryotherapie
  • Statisches Muskeltraining ohne Widerstand (Quadrizepsaktivierung)

 

3.- 5. Woche nach der Operation (Bewegungstraining)

  • Bewegungsübungen auf der Motorschiene (CPM-Schiene) nach 4. Woche beenden
  • Steigerung auf Körpergewicht an Krücken
  • Physiotherapie aktiv/assistiert ohne Widerstand
  • Quadrizepsaktivierung mit Taping/Tensing

 

ab 6. Woche nach der Operation (Bewegungstraining)

  • Bewegungsausmaß wird nun freigegeben. Noch keine größeren Widerstände.
  • Vollbelastung
  • Propriozeptives Training (Koordination)
  • Ergometertraining mit  geringem Widerstand

 

8-12. Woche nach der Operation (Muskel- und Koordinationstraining)

  • Ergometertraining mit größerem Widerstand
  • Beginn des Muskelaufbautrainings unter physiotherapeutischer Anleitung
  • Koordinatives Training intensivieren
  • Im Anschluss sportartspezifisches auftrainieren